Eines der Probleme von sozialen Normen ist, dass sie uns bereits seit unserer frühesten Kindheit infiltrieren. Als Mutter eines Sohnes bleibt es nicht aus, dass ich von Märchen, Kinderbüchern, – filmen und Hörspielen umgeben bin. Während sich mein Bewusstsein für Geschlechterstereotypen schärfte stellte ich entsetzt fest, wie viele dieser Geschichten die Klischees von abenteuerlustigen Jungen und fürsorglichen Mädchen wiederholen. Hinzukommt, dass in den meisten Geschichten die Väter das Geld nach Hause bringen und die Mütter zu Hause bleiben und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern.
Mit den Märchen der Brüder Grimm fing alles an. Märchen für alle nachfolgenden Generationen aufzuschreiben war zweifellos eine ehrenwerte Aufgabe – aber es ist heute auch bekannt, dass die Märchen anders ausgesehen hätten, wenn sie von den Schwestern Grimm aufgeschrieben worden wären.
Was Mädchen aus einigen der bekanntesten Märchen über Geld lernen:
Rumpelstilzchen
Nur seltsame kleine Männchen wissen, wie man zu Geld kommt. Wenn sie dich retten aber gleichzeitig erpressen und nichts Geringeres als dein erstes Kind fordern, rettet dich der nächste Mann. Also einfach abwarten, nichts tun, nichts wissen, das wird schon. Übrigens: Der Ärger begann damit, dass Dein Vater Dich an einen geldgierigen Dummkopf verkauft hat, der Dich geheiratet hat, weil er glaubt, dass Du Stroh zu Gold spinnen kannst. Macht nichts, Hauptsache, Du bist hübsch.
(Puh, was für ein Schicksal! Ich vermute, diese junge Dame ist schwer traumatisiert und unglücklich bis ans Ende ihrer Tage).
Frau Holle
Immer freundlich und fleißig sein, dann wird das schon jemand bemerken und Dich entsprechend entlohnen.
(Hmm, vielleicht fragst Du dazu erstmal Krankenschwestern, Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen etc.)
Sterntaler
Ein gutes Mädchen zu sein heißt, alles für andere herzugeben, selbst wenn Du dabei riskierst, zu verhungern und zu erfrieren. Es wird schon jemand kommen und Dich retten.
(Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Um ehrlich zu sein: Höchstwahrscheinlich nicht. Du bist also tot, aber dafür warst Du ein braves Mädchen).
Aschenputtel
Wenn Du ungerecht behandelt wirst, lass Dir einfach alles gefallen, arbeite hart, sei brav und weine ab und zu. Eines Tages wird ein weißer Vogel kommen und dich retten, und am Ende wird der Prinz dich heiraten.
(Du kannst genauso gut Lotto spielen. Statistisch gesehen hast Du eine größere Wahrscheinlichkeit, damit erfolgreich zu sein. Oder hör auf, nett zu sein, hör auf zu heulen und fang an, Deine Rechte einzufordern.)
Bild auf Basis eines Fotos von Paweł Czerwiński auf Unsplash
Was für eine wunderbare Zusammenfassung 🙂 Lieben Dank Irene!
Ja, leider geht es ja eben nicht nur in “alten” Märchen so. Der Großteil auch der neueren Kinderbücher strotzt nur so von Klischees, die weder Mädchen noch Jungs auf eine gleichberechtigte und gestaltende Rolle in der Gesellschaft vorbereiten geschweige denn sie offen und neugierig für vielfältige Lebensvorstellungen und -wünsche machen. Manchmal muss man den Würgereiz schon beim Klappentext unterdrücken. Lasst uns mehr darauf achten, was wir unseren Kindern vorlesen – es gibt ganz tolle Bücher – und sehr viele sehr schlechte 😉
Unbedingt! Die Aufmerksamkeit auf das Thema, welche Geschichten wir unseren Kindern vorsetzen, und was wir damit transportieren, ist wirklich relativ jung. Schön ist hierzu auch das Buch von Caroline Kebekus: “Es kann nur eine geben!” Sie beschreibt, wie sie als Kind versucht hat, sich mit den Protagonist*innen in den Kinderserien zu identifizieren, aber es gab immer nur die eine weibliche Rolle, und die hatten den Part, beschützt zu werden. Ihr Bruder hingegen konnte wählen, und natürlich war einer der männlichen Parts immer der Held, Abenteurer und Retter. Als Kind ist mir das nicht aufgefallen, aber eines meiner Lieblingsbücher war Ronja Räubertochter, und später bei den Filmen Thelma und Louise. Es gab sonst einfach sehr wenig mit Heldinnen, die sich selbst beschützen.